Gewalt in der Ehe: 6 Dinge, die du tun kannst, um betroffenen Frauen wirksam zu helfen

Vielleicht ist es die stille Schwester, der du manchmal beim Einkaufen begegnest. In Begleitung ihres Mannes. An dem nichts verdächtig ist. Vielleicht ist es die Schwester aus dem Tajweed-Kurs in der Moschee. Eine Schwester, die auf dich ganz „normal“ wirkt, unauffällig, scheinbar glücklich. Vielleicht ist es auch eine Schwester, die dir sehr nahe steht und von der du alles zu wissen glaubst.

Eine Schwester wie du selbst

Wer auch immer sie ist. Wie auch immer sie ist. Sie ist deine Schwester. Die du ehrst. Und die dich ehrt. Für Allah.

Deine Schwester, die vieles mit dir teilt.

Das Frau sein. Den Glauben. Das Recht auf Würde, Respekt und Unversehrtheit. An Körper und Seele.

Mit einem traurigen Geheimnis

Aber es gibt etwas, das sie nicht mit dir teilt. Denn es ist ein Geheimnis. Ein schmerzvolles. Von Scham umzäuntes und von wilder Angst bewachtes.

Es ist ihr Geheimnis.

Und seins!

Bis zu dem Tag, an dem sie nicht mehr kann. Weder aushalten. Noch durchhalten.

Bis das Dunkel sich Bahn bricht

An diesem Tag wird es aus ihr herausbrechen. Wie ein schwarzer Puma wird es aus seinem dunklen Versteck in ihrem innersten Inneren hervor stürzen. Wird dich anfallen. Und deine Naivität zerfetzen.

Endlich! Und für immer.

Nun ist sie nicht mehr allein mit diesem Untier. Namens SCHWEIGEN. Das in ihr wütet und alles zerreißt, was von ihrer Hoffnung und ihrer Stärke noch übrig ist.

Und dich sehend macht

Endlich weißt du und fühlst du als Schmerz in deiner Seele, was sie so lange verschwieg:

Dass sie voller Angst ist. Und ohne Schutz. Dass sie außer sich ist. Vor Schmerz. Und innerlich zugrunde geht. An Selbstvorwürfen. An Scham. An „Darüber spricht man nicht!“

Du weißt jetzt, dass sie in großer Gefahr ist. Dass sie beleidigt, erniedrigt, eingeschüchtert, misshandelt und gequält wird.

Von ihrem Ehepartner.

Jenseits des Tabus

Von einem, von dem niemand das jemals erwartet hätte. Weil sein Bart lang, seine Hose gekürzt und seine Gebete regelmäßig sind.

Oder von einem, von dem mancher es im Stillen befürchtet hatte. Ohne es laut auszusprechen.

Vielleicht auch von einem, von dessen Gewalt manche wussten. Oder viele. Die trotzdem schwiegen.

Nun bist du da …

Doch nun bist du da. Stehst neben ihr. Und auch ein bisschen neben dir. Weil das alles sehr viel für dich ist. Sehr plötzlich. Und sehr schmerzhaft.

Aber du bleibst. Und hörst zu. Denn du weißt: einen Zufall gibt es nicht.

Dass eure Wege sich trafen, dass sie gerade dir ihr Vertrauen schenkte und dass dein offenes Ohr auf ihr gebrochenes Schweigen traf – das war Allahs Plan!

Denn nichts geschieht ohne Seinen Willen.

Wirst du ihr helfen?

Mach dir bewusst: Allah prüft dich. Mit dieser Begegnung. Mit ihrer Not. Und deinem Wissen darüber.

Wirst du ihr helfen? Wirst du für deine Schwester da sein? Weil ihre Schmerzen, ihre Angst und ihre Tränen auch deine sind?

Weil du weißt, dass auch du schwach und bedürftig bist. Verletzlich. Und abhängig. Von Allah und dem, was Er dir an Segnungen zuteil werden lässt.

So wie wir alle.

So wie auch Musa, a.s., der sagte:

Mein Herr, wahrlich, ich bin all dessen, was du an Gutem auf mich herabsendest, bedürftig.

Quran Sura 28:24

Ja! Aber wie?

Wenn du bis hierher gelesen hast, dann bin ich sicher – du wirst sie nicht allein lassen. Du hast Iman. Du hast Mut. Und du hast Barmherzigkeit in deinem Herzen. Du willst ihr helfen!

Aber vielleicht weißt du nicht – wie?

Dann verzage nicht! Denn ich habe hier sechs Dinge für dich aufgelistet, die du tun kannst, um ihr und anderen Betroffenen beizustehen:

Schritt 1 – Glaube ihr!

Es kann sein, dass das Leid, welches deine Schwester mit dir teilt, dir unvorstellbar erscheint. Unmöglich. Surreal.

Es kann sein, dass es weit jenseits dessen liegt, was du wahrhaben willst – weil du, gepriesen sei Allah, in einer sicheren und liebevollen Beziehung lebst.

Alhamdullilah bist du vor solchen Erfahrungen bewahrt geblieben. Das heißt aber nicht, dass andere sie nicht machen mussten.

Auch wenn es weh tut

Daher ist das Wichtigste zunächst, dass du ihr glaubst! Und ihr das auch sagst:

„Ich glaube dir! Ich glaube dir, auch wenn deine Geschichte mein Weltbild in Scherben legt. Ich glaube dir, auch wenn meine Illusionen an deiner Wahrheit sterben.“

Das ist sehr wichtig. Vielleicht sogar das Wichtigste.

Weil es ihr weh tut!

Denn diese Schwester hat dir ihr Innerstes offenbart. Sie hat vor dir den Mantel des Schweigens abgelegt. Und sich dir in ihren ganzen Verletzlichkeit und ihrem zutiefst Verletzt sein gezeigt. Das braucht unglaublich viel Mut!

Und Angenommen werden. In dieser ehrlichen Blöße.

Schritt 2 – Nenne die Gewalt beim Namen

Auch wenn du nun weißt, dass sie Gewalt erlitten hat – es kann sein:

Sie weiß es noch nicht!

Worte wirken! Auch wenn sie hart und ungerecht sind

Es kann sein, dass sie sich zu sehr in Vorstellungen verfangen hat, die ihr Partner ihr über lange Zeit eingeredet hat:

  • von sich selbst (Du bist eine schlechte Frau! Du bist schuld. Du bist zu empfindlich!),
  • ihrer Rolle (Du darfst keine Fehler machen! Du darfst keine eigene Meinung haben. Du musst mir immer! alles! recht machen)
  • und der Welt „da draußen“ (Deine Freundinnen wollen uns auseinander bringen. Die Leute in der Moschee bringen dir falsche Sachen bei. Deine Familie mag dich nicht).

Vielleicht kann sie nicht erkennen, dass es nur ein Gedanken-Gebilde ist. Sein Gebilde. Und nicht die Wirklichkeit! Warum? Weil seine Urteile über sie und die Welt zu lange ihre Wirklichkeit waren. Oder noch immer sind.

Bilder und Normen wirken – auch wenn sie schwarzweiß oder alt und ungerecht sind

Hinzu kommt, dass unsere persönliche Vorstellung davon, was Gewalt ist und was nicht, sehr stark davon geprägt ist, was wir aus Film, Fernsehen und Nachrichten kennen (Gewalt = Schläge, Blut, gebrochene Rippen).

Aber auch von dem, was viele Menschen einer bestimmten Gruppe, der wir uns zugehörig fühlen (Geschlecht, Familie, Kultur usw.), für normal halten. Unabhängig davon, ob es richtig ist. Oder nicht!

Des einen Norm – des Anderen Not!

Typische „Normalitäten“ könnten zum Beispiel so aussehen:

  • Es ist nicht schlimm, einer Frau eine Ohrfeige zu geben.
  • Männer dürfen Frauen mit Gewalt erziehen.
  • Frauen brauchen Härte.
  • Frauen darf man(n) nicht trauen.
  • Frauen sind weniger wert als Männer.
  • Das ist nach dem Quran erlaubt.

Solche Vorstellungen und Normen sind oft sehr einseitig. Nicht mit dem Islam zu rechtfertigen! Und für Betroffene: schlicht verletzend!

Dennoch wirken sie! Auch auf Betroffene.

Besonders wenn sie es nicht anders kennengelernt haben. Weil vielleicht auch ihre Mütter, ihre Schwestern, ihre Tanten von ihren Männern gedemütigt, erniedrigt oder geschlagen wurden. Und keiner etwas dagegen unternahm.

Das soll Gewalt sein?

Deshalb kann es passieren, dass betroffene Frauen glauben, das sei „normal“. Das sei bei anderen auch nicht anders, das sei ihre Schuld, das sei das Recht ihres Mannes…

Kurz: Das sei keine Gewalt!

Aber das ist es!

Und das muss jede Betroffene wissen! Und erkennen. Um sich dagegen wehren zu können.

Bitte hilf ihr dabei.

Damit du das kannst, musst du selber Wissen darüber haben, was Gewalt ist. Deshalb:

Schritt 3 – Eigne dir Wissen an und teile es mit anderen

  • Lies alles, was du in die Hände bekommen kannst (zum Beispiel hier oder hier), um dich darüber zu informieren, was Gewalt ist. Welche Formen von Gewalt es gibt. Wie diese sich zeigen. Und wozu sie führen können.
  • Teile dein Wissen mit der betroffenen Schwester. Aber auch mit anderen Menschen in deinem Umfeld. Schaffe ein Bewusstsein dafür, dass Gewalt in der Partnerschaft ein großes Problem ist! Gegen das auch die muslimische Community nicht immun ist! Leider!
  • Vernetze dich mit Menschen, die sich dafür einsetzen, Betroffenen zu helfen, wie z.B. in Vereinen oder Anlaufstellen vor Ort (Beratungsstellen, Frauenhäuser etc.) oder auf Online-Plattformen (z.B. BIG-e.V., Frauen gegen Gewalt, Rahma e.V.)
  • Suche Kontakt zu anderen Betroffenen, um die Situation, die du gerade (mit-)erlebst, besser einordnen und in Relation setzen zu können.
  • Wende dich an Glaubensgeschwister in führenden Positionen (Lehrer, Ansprechpartner, Imame!). Bitte sie um Rat und darum, das Thema „Gewalt gegen Frauen“ aus islamischer Sicht zu besprechen und in Vorträgen/Videos oder einer Chutba deutlich zu verurteilen.

Schritt 4 – Einen Notfallplan erstellen

Wissen über Gewalt ist wichtig. Keine Frage. Es macht aufmerksam. Es stärkt. Es hilft, geschehene Gewalt einzuordnen. Und doch – Wissen allein schützt nicht.

Deshalb ist es wichtig, für den Notfall vorbereitet zu sein. Einen Plan zu haben für den Fall, dass es wieder passiert (und das wird es!). Für den Fall, dass ein Schlüssel an der richtigen Stelle, ein Codewort, eine gepackte Tasche entscheidend sein könnten – für das (Über-)leben der betroffenen Frau.

Im Notfall wissen, was zu tun ist

Ein Notfallplan legt detailliert fest: wohin (zu wem), mit wem (Kinder) mit was (Dokumente, Tasche) und wie (Auto? mit Hilfe der Nachbarin?) sie sich und ggf. ihre Kinder in Sicherheit bringen kann.

Einen Vordruck kannst du zum Beispiel hier herunterladen (leider nur auf Englisch).

Diesen Plan kann die betroffene Schwester gemeinsam mit dir ausfüllen, ausdrucken und an einem sicheren Ort aufbewahren (am sichersten ist, wenn sie ihn auswendig lernt, mindestens die Notfall-Nummern!).

Hoffentlich wird sie ihn nicht brauchen. Aber wenn doch, dann ist sie vorbereitet.

Schritt 5 – Die Entscheidungen der betroffenen Schwester überlassen

Auch wenn du gern sofort dafür sorgen würdest, dass der gewalttätige Ehepartner polizeilich angezeigt und gerichtlich zur Rechenschaft gezogen wird…

Auch wenn du deine Schwester am liebsten sofort aus ihrer Wohnung, ihrer Ehe, ihrer Notsituation holen würdest…

Tue es nicht, weil du es willst. Sondern nur, wenn sie es will. Denn

Es ist ihr Leben. Ihre Entscheidung. Und ihr Risiko.

Triff keine Entscheidungen über sie hinweg. Das tut schon ein Anderer. Respektiere ihre Grenzen. Ihr Zögern. Ihre Angst.

Sie entscheidet!

Denn sie allein weiß, wie schwer es wirklich ist, sich von ihrem gewalttätigen Ehepartner zu lösen. Und warum sie (noch) bleibt. Gründe könnten sein:

  • zu geringe finanzielle Absicherung
  • ohne eigene Krankenversicherung
  • kein sicherer Ort, an den sie fliehen kann
  • mangelnde Unterstützung durch Familie und Freunde
  • ANGST vor der „Rache“ des (Ex-)Partners.

Studien zufolge ist die Zeit nach der Trennung von ihrem gewalttätigen Partner die gefährlichste Zeit überhaupt für die betroffene Frau.

Das musst du unbedingt im Hinterkopf behalten! Auch wenn es dir schwer fällt.

Schritt 6 – Schütze dich selbst vor dem Helfer-Burnout

Du weißt jetzt, dass es sehr schwer und auch sehr gefährlich für eine betroffene Schwester sein kann, sich aus einer Gewalt-Beziehung zu lösen. Weil es dafür viel Mut braucht und innere Stärke. Aber gerade diese Eigenschaften fehlen ihr oft.

Denn sie wurden systematisch zerstört. Mit Worten. Mit Schweigen. Oder mit Schlägen.

Es kann lange dauern

Daher kann es sehr lange dauern, bis eine betroffene Frau wirklich geht. Oder: Gehen kann.

Vielleicht Wochen. Aber wahrscheinlich viele Monate. Oder gar Jahre. Vielleicht geht sie auch nie.

Daher ist es sehr wichtig, dass du daran denkst, auch dich selbst zu schützen. Indem du auf dich, deine Bedürfnisse und Grenzen achtest.

Teile deine Kräfte ein

Um einen Helfer-Burnout zu vermeiden, solltest du:

  • festlegen, wie viel Zeit du ihr und ihrer Notsituation widmen kannst (z.B. 2 mal pro Woche ein Treffen/Telefonat für eine halbe Stunde)
  • Pausen einlegen, wenn dich die Teilhabe an der Situation emotional zu sehr belastet
  • fürsorglich mit dir selbst umgehen
  • deine Sorgen mit dir nahe stehenden Menschen teilen und besprechen
  • dich mit Dua an Allah wenden und Ihn bitten, dir zu helfen und dich zu stärken.

Nicht leicht, aber lohnend!

Gewiss, es ist keine leichte Aufgabe, eine Schwester zu begleiten, deren Alltag erfüllt ist von Schmerzen, von Tränen, von Angst und von gefühlter oder tatsächlicher Ausweglosigkeit.

Aber, sie ist wichtig. Für deine Schwester. Und ihr (Über-)Leben.

Darum – mach dich stark. Für sie, die dich jetzt braucht. Erleichtere ihr ihre Not. Schütze sie so gut du kannst. Und erinnere dich an das, was der Gesandte Allahs, saws, uns lehrte:

Wer einem Gläubigen eine Sorge von den Sorgen dieser Welt nimmt, dem wird Allah eine Sorge von den Sorgen am Tage des Gerichts nehmen. Und wer einem Menschen in Bedrängnis Erleichterung verschafft, dem wird Allah in dieser Welt und im Jenseits Erleichterung verschaffen. Und wer einen Muslim schützt, den wird Allah schützen im Diesseits und im Jenseits. […]

Riyadhu-s-Salihin, Hadith Nr.245

Hast du schon einmal einer Schwester in einer solchen Lage beistehen müssen? Wie hast du dich dabei gefühlt? Findest du die sechs vorgeschlagenen Schritte hilfreich und realistisch? Bitte schreib es mir in die Kommentare.

Quellen: https://muslimmatters.org/2016/10/18/four-ways-to-help-a-muslim-victim-of-domestic-abuse/

Bild von Peter H auf Pixabay

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