Schrei-Baby: Wie ich das ständige Weinen meines Babys als Mutter erlebt habe

Schreibaby

Stille.

Einfach nur Stille.

Mehr wollte ich nicht. Aber mein Baby hielt davon nichts. Es schrie. Und schrie und schrie. Schon seit Stunden. So wie gestern. Und vorgestern. Und vorvorgestern. Seit wir das Krankenhaus drei Tage nach seiner Geburt verlassen hatten, war es nicht zu beruhigen.

Es war völlig außer sich. Und ich mittlerweile auch. Denn ich wusste mir keinen Rat mehr. Und vor Müdigkeit konnte ich kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen.

Was in aller Welt fehlte meinem Baby? Woran litt es so sehr? Und wie sollte ich ihm helfen?

Ist eben so…

Ich fragte meine Hebamme. Sie sagte, bei manchen Kindern sei das eben so. Die bräuchten einfach länger, um anzukommen.

Das konnte ich zwar irgendwie nachvollziehen. Denn auch mir fiel es schwer, in meinem neuen Leben zwischen Windeln, Dauer-Stillen und völliger Erschöpfung anzukommen. Aber es half mir kein bisschen weiter. Denn mein Baby schrie weiterhin.

Und ich wusste immer noch nicht, wie ich ihm helfen konnte. Und mir!

Nur ein Spielchen?

Ich fragte die Kinderärztin, die kurz vor der Rente stand. Sie murmelte etwas von Dreimonatskoliken und drückte mir ein Buch in die Hand, das in solchen Fällen helfen solle.

Jedes Kind kann schlafen lernen, versprach es vollmundig. Es schlug vor, das schreiende Kind schreien zu lassen. Zwar Ab und zu mal hinzugehen. Es aber nie, nie, niemals aus dem Bettchen zu nehmen, wenn seine Schlafzeit gekommen war.

Das Kind solle endlich lernen, dass es mit seinen „Spielchen“ nichts erreichen könne. Aber mein Kind spielte keine Spielchen. Es war in Not. Und ich mit ihm. Dieses Buch konnte daran nichts ändern. Im Gegenteil, es verschärfte unsere Not noch. Indem es uns den Vorwurf ins Herz rammte, einem gemeinen Spielchen verfallen zu sein.

Du sollst, du musst, du darfst nicht…

Andere fragte ich nicht. Sie hatten trotzdem alle etwas zu sagen. Das Kind muss endlich allein in seinem Bettchen schlafen. Leg es doch einfach hin und geh raus. Dann wird es schon schlafen. Nein – leider nicht!

Das Kind hat Hunger. Du musst es jedes Mal  stillen, wenn es weint. Deine Milch reicht nicht. Du darfst es nicht so verwöhnen. Trage es doch nicht dauernd herum. Trage es mehr herum. Du musst auch mal an dich denken. Es muss sich doch auch mal allein beschäftigen. Das hat dich ja ganz schön im Griff. Du hast es zu sehr verwöhnt. ..

Die Liste könnte noch endlos weitergehen…

Allein zu zweit (oder zu dritt)

Leider wusste ich damals noch nichts von Schreiambulanzen. Dort kannte man sich mit solchen Fragen wirklich aus. Und vor allem mit den Antworten. Aber das hatte mir keiner gesagt. Jedenfalls nicht rechtzeitig. Ich blieb also allein. Mit mir. Meinen Fragen. Den vielen Rat-Schlägen. Und meinem Baby, das unentwegt schrie.

Stundenlang trug ich es durch die Wohnung, sang Schlaf-und Kinderlieder in Endlosschleife, rezitierte alles, was ich vom Quran auswendig wusste, kuschelte, wickelte, stillte, weinte, flüsterte, schimpfte, seufzte, bettelte…

Aber – nichts half.

Ein halbes Jahr nur Tränen, und dann…

Den ganzen nebeligen und kalten Herbst hindurch und auch den kompletten eisigen Winter hindurch schrie mein Baby. Von abends gegen halb sechs bis nachts um 11. Erst dann schlief es in meinen Armen ein. Vollkommen leer geschrien. Und vollgepumpt mit Milch bis an den Rand.

Als ich im Frühling kurz davor war, vor Erschöpfung, nie enden wollender Sorge und tonnenschweren Schuldgefühlen zusammenzubrechen, geschah etwas, womit ich nicht mehr gerechnet hatte.

Mein Baby lächelte. Und war still. Einfach so.

Ohne Herumtragen. Ohne Stillen. Ohne stundenlanges, exzessives Spazierengehen auf holprigen Pisten (ebene Gehwege waren ihm ein Graus). Ohne Singen. Ohne Wippen. Ohne alles.

Doch keine schlechte Mutter?

Plötzlich war es zufrieden. Mit sich und der Welt. Und mit mir! Und ich bekam eine erste Ahnung davon, wie sich das anfühlt – wenn dein Baby nicht ständig schreit.

Wenn du dich nicht ständig fragen musst: Was mache ich falsch? Was fehlt ihm? Warum kann ich es nicht beruhigen? Bin ich eine schlechte Mutter?

So also ist das, dachte ich – Mutter sein ohne Schuldgefühle. Ohne Selbstzweifel. Ohne Angst, zu versagen.

So schön kann das sein. Und so leicht.

Doch warum konnte ich das nicht früher erleben? Und warum jetzt? Was war geschehen?

Zeit zum Wachsen

Im Grunde war gar nichts geschehen.

Es war einfach nur Zeit vergangen. Viele, viele Tage. Voller Regen und Nebel, voller Milch und Geschrei. Und ebenso viele Nächte. Die viel zu spät begannen und viel zu früh endeten.

Und ganz nebenbei, während mein Baby weinte und schrie und sich stundenlang gegen den Schlaf und das neue Leben wehrte, war es gewachsen. Nicht nur in die Länge. Das auch. Vor allem aber war es in seinen Fähigkeiten gewachsen.

Es konnte jetzt krabbeln und Dinge festhalten und Laute von sich geben. Es konnte etwas aus eigenem Antrieb erreichen.

Zum Beispiel das andere Ende des Teppichs.

Etwas tun können …

Und das war vielleicht das Wichtigste. Jedenfalls für mein Kind. Es wollte etwas tun. Etwas tun können. Von sich aus. Und lange Zeit konnte es nur atmen, trinken, kuscheln und schreien. Das waren seine Möglichkeiten zu handeln. Und sich mitzuteilen. Und genau das hat es getan.

Das wurde mir plötzlich klar.

Und noch etwas anderes dämmerte mir..

Falsch gerechnet…

Die Gleichung „Baby ruhig= Mama gut“, die ich aufgestellt hatte und die auch meine Umgebung immer wieder an mich heran trug, war viel zu einfach! Sie war ungerecht. Und unlösbar – zumindest für mich. Und mein Baby.

Und trotzdem, oder gerade deswegen hat sie mich innerlich beinahe zugrunde gerichtet. Ich habe die ganze Zeit mit aller Kraft versucht, ihr gerecht zu werden. Was einfach nicht gelingen konnte.

Weil es nicht die unsere war!

Unkontrolliert lebendig

Langsam begann ich zu verstehen, dass das Schreien meines Kindes eben kein ständiger Vorwurf war. Kein: „Mama, du bist schlecht!“ „Mama, du versagst!“

Sondern einfach nur sein Weinen. Seine Stimme. Seine Brücke zu uns. Zur Welt. Zur Liebe.

Es lag also gar nicht so sehr in meiner Hand, ob es ruhig war oder nicht. Jedenfalls nicht so sehr, wie ich mir das eingeredet hatte.

Sein Schreien bedeutete nicht unbedingt, dass ich etwas falsch machte. Es hatte auch nichts mit meiner Milch zu tun. Nicht mit irgendwelchen Rhythmen, Büchern und Ratschlägen, die ich umsetzte oder eben nicht. Es lag auch nicht an mangelnder Konsequenz. Oder daran, dass wir es zu viel getragen hatten. Oder zu wenig.

Nicht weil, sondern obwohl…

Es war einfach so. Mein Kind weinte. Und schrie. Und zwar nicht, weil ich etwas falsch machte. Sondern obwohl ich versuchte alles richtig zu machen.

Ich will damit nicht sagen, dass es grundlos weinte. Nein, ganz sicher gab es einen Grund.

Vielleicht auch viele.

Vielleicht hat es die Geburt (eine Beckenendlage mit ärztlicher Intervention) als so rabiat und verstörend erlebt, dass es sich dieses Auf die Welt gezerrt werden, von der Seele schreien musste.

Vielleicht war es ihm auch zu laut in dieser Welt. Oder zu leise. Vielleicht vermisste es meinen Bauch und die Enge darin. Die Dunkelheit, das geborgen sein. Vielleicht fühlte es sich einsam, ganz allein in seinem Bettchen. Und es war ihm ganz egal, was in den vielen schlauen Ratgebern stand.

Vielleicht brauchte es einfach ganz viel Nähe. Um sich sicher zu fühlen. Um zu wissen, ja, das ist Mama. Und das ist Papa. Die sind da. Die haben mich lieb. Die hören mich. Und halten mich, wenn es dunkel wird. Oder kalt. Oder einfach nur ungemütlich.

Schrei nach Liebe

Darum ging es. Um das Gefühl, geliebt zu werden. Halt zu finden. Schutz und Nähe. Das hat es versucht, zu erlangen. Mit all seiner Kraft. Und dem, was es dafür tun konnte. Und das haben wir versucht, ihm zu schenken. Mit all unserer Kraft. Und weit darüber hinaus.

Dass es trotzdem weinte und viel schrie und schlecht schlafen konnte, das heißt nicht, dass wir versagt haben. Oder dass mit unserem Kind etwas nicht in Ordnung war. Nein, das heißt einfach nur, dass es trotzdem noch etwas gab, woran es litt. Etwas, das wir ihm nicht abnehmen konnten.

So wie es auch später in seinem Leben immer wieder Dinge gab und immer noch gibt, die ihm weh taten. Ein Sturz zum Beispiel. Oder ein Freundin, die keine mehr sein wollte. Oder das Geschwisterchen, das ganz früh starb.

Wir waren da. Wir halfen auf. Wir küssten und trösteten. Aber wir konnten es  nicht davor bewahren. Unsere Liebe vermochte nur sein Leid zu verringern, aber nicht es zu verhindern.

Erschöpft, traurig, wütend

Heute kann ich das so sehen, aber damals war es schlimm. Sehr schlimm. Damals glaubte ich, auf ganzer Strecke zu versagen. Und nicht nur das. Ich war unglaublich erschöpft. Und ausgebrannt.

Ich erinnere mich daran, dass ich vor Erschöpfung kaum noch laufen konnte. Dass meine Gebete ewig dauerten. Weil ich es einfach nicht schaffte, wieder vom Boden aufzustehen.

Ich sehe noch vor mir, wie wir im Flur sitzen, zusammengekauert, verzweifelt. Mein Mann und ich. Völlig verzweifelt. Vollkommen ausgelaugt. Leer.

Und unendlich traurig.

Und auch wütend. Darüber, dass wir unser Kind nicht trösten konnten. Dass wir ihm so schlechte Eltern waren. Oder zu sein schienen.

Keine Zeit, um stolz zu sein

Wir gaben alles. Aber es reichte nicht. Es war schwer, das Muttersein, das Elternsein zu genießen. Stolz zu sein. Und glücklich.

Wir waren stolz, ja.

Aber wir hatten kaum Gelegenheit, das zu fühlen. Oder zu zeigen. Wir waren damit beschäftigt, den Kinderwagen hastig über die Wiese zu schieben, uns gegenseitig Vorwürfe zu machen, zu weinen, zu wickeln, zu stillen und uns die Kommentare der anderen nicht zu sehr zu Herzen zu nehmen.

Auftauchen und…

Aber irgendwann war es plötzlich vorbei.

Und wir tauchten alle gemeinsam auf. Aus dem Nebel und der Kälte unseres ersten Baby-Winters, von dem mein Vater mir immer gesagt hatte, dass er vorüber gehen müsse.

Die Sonne wurde wärmer. Und der Frühling begann.

Mit unserem Kind, das plötzlich strahlte und lachte und mit uns um die Wette lächelte.

Als hätte es nur auf diesen Tag gewartet. Um uns fortan zu zeigen, dass es mindestens so viele Lächeln in sich trug wie Tränen.

Alhamdullilah!

Gib nicht auf

Darum, wenn du gerade in dieser Situation bist und dein Baby schreit und schreit und schreit. Und du weißt nicht mehr ein noch aus – verliere nicht die Hoffnung.

Gib nicht auf. Mach, was du kannst. Und was dir richtig erscheint. Auch wenn es (scheinbar) nicht reicht.

Und vor allem – sei dir gewiss, es ist nicht umsonst! Es kommt alles an! Und eines Tages hört das Weinen auf. Und dann fängt ein neuer Frühling an. Auch wenn das mitten im Winter ist.

Mit deinem Kind, das all deine Liebe gesammelt hat.

Während es weinte.

Deine Ummabdurrahman

Hattest du auch ein Schrei-Baby? Wie war das für dich?

Zum Weiterlesen:

https://www.dgkj.de/eltern/dgkj-elterninformationen/elterninfo-schreibaby

2 Kommentare bei „Schrei-Baby: Wie ich das ständige Weinen meines Babys als Mutter erlebt habe“

  1. Bin gerade zufällig auf deine Seite gestoßen und bin ganz begeistert von deiner schönen Schreibart.! Bin nun selber im neunten Monat schwanger und möchte mir diese Worte einprägen. Um darauf zurückgreifen zu können, um Mut zu bekommen, falls ich mal in dieser Situation stecke. Danke für deine Offenheit und die Erfahrungen, die du mit uns teilst.

    1. Danke, liebe Umm Amana! Ich freue mich sehr, dass du meine Worte als eine Quelle von Ermutigung empfindest. Barakallahufeeki. Möge Allah deine Schwangerschaft segnen und es dir leicht machen, das Schöne zu genießen und das Schwierige zu bewältigen, was das Muttersein mit sich bringt. Ich wünsche dir und deinem Baby alles Gute:)

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